XVII

 

Am folgenden Morgen schickte Marguerite mich sehr früh fort, da der Herzog, wie sie sagte, zeitig kommen werde. Sie versprach zu schreiben, sobald er fort sei, und mir, wie gewöhnlich, für den Abend einen Treffpunkt zu nennen. Tatsächlich erhielt ich auch im Laufe des Tages ein Briefchen. ,Ich fahre mit dem Herzog nach Bougival. Seien Sie heute abend um acht Uhr bei Prudence.'
Zur besagten Stunde war Marguerite zurück und kam zu Madame Duvernoy, um mich dort zu treffen. ,Es ist alles in Ordnung', sagte sie eintretend. ,Das Haus ist gemietet?' fragte Prudence. Ja, er war sofort damit einverstanden.' Ich kannte den Herzog nicht, aber ich schämte mich, ihn so zu hintergehen, wie ich es jetzt zu tun im Begriff war. ,Aber das ist noch nicht alles', begann Marguerite wieder. ,Was gibt es denn noch?'
,Ich habe mich um Armands Wohnung gekümmert.' ,Im gleichen Haus?' fragte Prudence lachend. ,Nein, aber im Pointdu-Jour, wo wir gefrühstückt haben, der Herzog und ich. Während er sich an der schönen Aussicht erfreute, sprach ich mit Madame Arnould - denn sie heißt doch Madame Arnould, nicht wahr? - Ich fragte sie also, ob sie ein annehmbares Appartement zu vermieten habe. Sie hatte gerade eines frei, mit Salon, Vorzimmer und Schlafzimmer. Das genügt, denke ich. Sechzig Francs im Monat. Alles danach eingerichtet, um einen Schwermütigen zu zerstreuen. Ich habe es gemietet. War das richtig?' Ich fiel Marguerite um den Hals.
,Es wird reizend werden', fuhr sie fort. ,Sie bekommen einen Schlüssel für die kleine Tür, und dem Herzog habe ich einen für das Gartentor versprochen, den er aber sicher nicht benutzen wird, denn er kommt ja nur am Tage. Unter uns gesagt, freut er sich, glaube ich, über diese Laune von mir, weil sie mich einige Zeit von Paris fernhält. Das wird auch seine Familie beruhigen. Er fragte mich nur, weshalb ich mich in jener Gegend vergraben wollte, wo ich doch Paris so liebte. Ich sagte ihm, ich sei im Augenblick zu leidend und müsse Ruhe haben. Er schien mir das nicht ganz zu glauben. Der arme Alte ist immer etwas mißtrauisch. Wir werden sehr vorsichtig sein müssen, mein lieber Armand. Denn er wird mich dort sicher überwachen lassen. Außerdem ist es noch nicht damit getan, daß er mir das Haus mietete, er wird auch meine Schulden zahlen müssen, und ich habe mehr als genug. Sie verstehen das alles, nicht wahr?'
,Ja', sagte ich und versuchte, die Stimme, die sich gegen diese Art des Lebens immer wieder meldete, zum Schweigen zu bringen.
,Wir haben uns das Haus vom Boden bis zum Keller angesehen und sind begeistert davon. Es wird herrlich werden. Der Herzog interessierte sich für alles. Ach, mein Lieber', fügte sie hinzu und küßte mich. ,Sie sind zu beglückwünschen, denn ein Millionär ebnet Ihnen die Wege.' ,Und wann ziehen Sie um?' fragte Prudence. ,So bald als möglich.' ,Nehmen Sie Wagen und Pferde mit?' ,Ja, ich nehme meinen ganzen Haushalt mit. Ich will es bequem draußen haben. Sie können während meiner Abwesenheit meine Wohnung benutzen.' Acht Tage später wohnte Marguerite in dem Landhaus, und ich hatte mich im Point-du-Jour eingerichtet. Ein Leben begann, das ich Ihnen nur schwer beschreiben kann. Zu Beginn des Aufenthaltes in Bougival konnte Marguerite nicht völlig mit ihren Lebensgewohnheiten brechen. Alle ihre Freundinnen besuchten sie, und es herrschte ununterbrochen ein festliches Treiben. Während des ersten Monats verging kein Tag, ohne daß nicht acht oder zehn Gäste anwesend waren. Auch Prudence brachte alle ihre Bekannten mit und spielte sich auf, als gehöre das Haus ihr. Sie werden sich denken können, daß des Herzogs Geld das alles möglich machte. Trotzdem bat Prudence mich ab und zu um einen Tausend-Francs-Schein, sozusagen in Marguerites Namen. Sie wissen, daß ich am Spieltisch einiges gewonnen hatte. Ich gab also Prudence jede Summe, die Marguerite durch sie von mir erbat. Ich befürchtete nur, daß meine Mittel bald erschöpft sein würden. Deshalb lieh ich mir in Paris die gleiche Summe, wie schon einmal. Inzwischen, hatte ich sie ja pünktlich zurückgezahlt.
Ich verfügte also abermals über zehntausend Francs, außer meinem Jahreseinkommen.
Die Freude, die Marguerite anfänglich über die Besuche ihrer Freunde empfand, verflog allmählich, weil die Ausgaben zu hoch wurden und sie mich manchmal um Geld bitten mußte.
Der Herzog, der das Haus für Marguerite gemietet hatte, damit sie sich ausruhe, kam nie mehr zu Besuch. Er fürchtete wohl, wie schon einmal, in eine zahlreiche und heitere Gesellschaft hineinzugeraten, in der er sich nicht zeigen wollte. Denn eines Tages war es vorgekommen, daß er sie besuchen wollte, um mit ihr zu Mittag zu speisen. Er rechnete damit, Marguerite allein anzutreffen, und als er nichtsahnend die Türe zum Eßzimmer öffnete, saßen dort noch fünfzehn Personen beim Frühstück. Allgemeines Gelächter empfing ihn, und er mußte sich sofort vor der Aufdringlichkeit der anwesenden Damen zurückziehen. Marguerite war sofort aufgestanden, dem Herzog ins Nebenzimmer gefolgt und hatte so gut als möglich versucht, den Zwischenfall ungeschehen zu machen. Der alte Mann war aber in seiner Eigenliebe verletzt und zeigte sich unnachgiebig. Er sagte dem armen Kinde unverhohlen, er habe keine Lust mehr, die Launen einer Frau zu bezahlen, die ihm nicht einmal in ihrem eigenen Haus Achtung verschaffen könne. Nach diesen Worten verließ er sie aufgebracht.
Von diesem Tage an wurde nicht mehr von ihm gesprochen. Marguerite schickte ihre Gäste fort, sie änderte ihre Lebensweise, aber der Herzog ließ nichts mehr von sich hören. Ich hatte den Vorteil, daß meine Geliebte mir nun endlich allein gehörte und mein Traum sich verwirklichen sollte. Marguerite konnte sich nicht mehr von mir trennen. Ohne sich Gedanken über die möglichen Folgen zu machen, verbarg Marguerite unser Verhältnis nicht mehr vor den Augen der Welt. Ich wohnte bei ihr, die Dienerschaft nannte mich Monsieur und betrachtete mich als ihren Herrn. Prudence hatte Marguerite natürlich eine Moralpredigt gehalten, als sie ihre Lebensweise zu ändern begann. Aber Marguerite hatte ihr geantwortet, sie liebe mich, sie könne ohne mich nicht mehr leben und werde, was auch kommen möge, nicht auf das Glück verzichten, mich ständig um sich zu haben. Und sie fügte hinzu, daß es jedem, dem das nicht passe, frei stünde, hinfort nicht mehr zu kommen. Das alles hatte ich eines Tages gehört, als Prudence zu Marguerite gekommen war, um ihr angeblich sehr wichtige Mitteilungen machen zu müssen. Sie hatten sich eingeschlossen, und ich belauschte sie hinter der Türe. Einige Zeit später kam Prudence wieder einmal zu uns. Ich war im Garten, und sie hatte mich nicht gesehen. Ich vermutete, daß eine ähnliche Unterhaltung wie neulich stattfinden sollte, und wollte wieder lauschen. Die beiden Frauen schlossen sich im Boudoir ein, und ich horchte an der Türe. ,Nun?' fragte Marguerite. ,Ich habe den Herzog gesehen.' ,Was sagte er?'
,Er verzeiht Ihnen gerne den Zwischenfall von neulich. Aberer hat erfahren, daß Sie in aller Öffentlichkeit mit Herrn Armand Duval zusammenleben, und das verzeiht er Ihnen nie. Er sagte wörtlich: »Wenn Marguerite diesen jungen Mann verläßt, dann werde ich ihr wieder wie früher alle Wünsche erfüllen. Wenn sie das nicht tut, soll sie mich auch um nichts mehr bitten.«' ,Und was haben Sie ihm darauf geantwortet?' ,Ich würde Ihnen seinen Entschluß mitteilen. Ich versprach ihmzu versuchen, Sie zur Vernunft zu bringen. Überlegen Sie doch, liebes Kind, was Sie aufgeben! Armand kann Ihnen diese Geldsumme niemals beschaffen. Er liebt Sie von Herzen, aber er ist nicht reich genug, um für alle Ihre Bedürfnisse aufkommen zu können. Eines Tages wird Armand Sie doch verlassen, aber dann wird es für den Herzog zu spät sein, weil der dann auch nichts mehr von Ihnen wissen will. Soll ich mit Armand deshalb sprechen?' Marguerite schien nachzudenken, denn sie zögerte mit einer Antwort. Mein Herz klopfte wild, während ich hinter der Türe wartete, was sie nun sagen würde. ,Nein', sprach sie endlich, ,ich verlasse Armand nicht. Ich verstecke mich auch nicht mit ihm. Vielleicht ist es eine Dummheit, aber ich liebe ihn. Was kann man da machen? Und dann ist er es jetzt gewöhnt, mich ohne Heimlichkeiten zu lieben. Er würde zu sehr leiden, wenn er mich auch nur für eine Stunde am Tage verlassen müßte. Und dann werde ich auch nicht mehr sehr lange leben. Warum soll ich mich unglücklich machen und den Wunsch eines alten Mannes erfüllen, bei dessen Anblick allein ich mich auch alt fühle. Er soll sein Geld behalten. Ich verzichte darauf.' ,Aber wovon wollen Sie leben?' ,Das weiß ich auch noch nicht.'
Prudence wollte zweifellos etwas antworten, aber ich stieß die Türe auf und stürzte Marguerite zu Füßen. Ich netzte ihre Hände mit Freudentränen, weil sie mich so sehr liebte. ,Mein Leben gehört dir, Marguerite, du brauchst diesen Mann nicht mehr. Bin ich nicht bei dir? Könnte ich jemals das Glück, das ich dir verdanke, vergessen oder nur annähernd vergelten? Keinen Zwang mehr, Marguerite, wir lieben uns, und alles andere geht uns nichts mehr an.' ,O ja, ich liebe dich, mein Armand', sagte sie und schlang ihre Arme um meinen Hals. ,Ich liebe dich so, wie ich es nicht für möglich hielt, lieben zu können. Wir werden sehr glücklich sein, werden beschaulich miteinander leben, und ich sage meiner früheren Lebensweise, über die ich jetzt erröte, endgültig Lebewohl. Du wirst mir niemals meine Vergangenheit vorhalten, nicht wahr?'
Tränen erstickten meine Stimme. Ich konnte Marguerite nur antworten, indem ich sie heftig an mich preßte. ,Also', sagte sie zu Prudence gewandt, mit bewegter Stimme, ,Sie werden dem Herzog diese Szene schildern und ihm sagen, daß wir ihn nicht mehr nötig haben.' Von diesem Tage an wurde der Name des Herzogs nicht mehr erwähnt. Marguerite war nicht mehr das Mädchen von einst. Sie entfernte alles, was an die Umgebung, in der ich sie kennengelernt hatte, erinnern könnte. Niemals hätte eine Frau ihrem Gatten, eine Schwester ihrem Bruder mehr Liebe und Fürsorge erweisen können als sie mir. Ihre kränkliche Natur war für alle Dinge aufgeschlossen, für alle Empfindungen aufnahmebereit. Sie brach mit allem, mit ihren Freunden und mit ihren Lebensgewohnheiten, mit ihrer Verschwendungssucht und ihrer Art, sich auszudrücken. Wer uns beobachtet hätte, wie wir das Haus verließen, um eine Wasserfahrt zu machen - in einem reizenden, kleinen Boot, das ich gekauft hatte -, der hätte nie geglaubt, daß die Frau in dem weißen Kleid, mit dem großen Strohhut und der Seidenmantille, die sie gegen die Kühle des Wassers mitführte und über dem Arm trug, daß diese Frau dieselbe Marguerite Gautier war, die noch vier Monate früher mit ihren Skandalen und ihrem Luxus Aufsehen erregt hatte. Ach, wir eilten mit unserem Glück, als ahnten wir, daß wir es nicht lange genießen sollten.
Seit zwei Monaten waren wir nicht mehr in Paris gewesen. Es war auch niemand zu uns herausgekommen, außer Prudence und jener Julie Duprat, die ich schon erwähnt habe und der sie später die rührenden Aufzeichnungen übergab, die ich hier habe.
Ich verbrachte ganze Tage zu Füßen meiner Geliebten. Wir öffneten die Fenster zum Garten und freuten uns über den schönen Sommer, die Blumenpracht und die Schatten unter den Bäumen. Seite an Seite atmeten wir dieses Leben ein, das weder Marguerite noch ich bis jetzt gekannt hatten. Diese Frau hatte eine kindliche Freude an den kleinsten Dingen. Manchmal lief sie wie ein zehnjähriges Mädchen einem Schmetterling oder einer Libelle quer durch den Garten nach. Diese Kurtisane, die allein für Blumensträuße mehr Geld verschwendet hatte, als man benötigt, um im Schoße einer Familie glücklich zu leben, saß bisweilen stundenlang auf dem Rasen, um die Blume zu betrachten, deren Namen sie trug. In jener Zeit las sie häufig ,Manon Lescaut'. Ich überraschte sie einige Male, wie sie sich Stellen in dem Buch anstrich. Sie sagte mir stets, daß eine Frau, wenn sie liebt, niemals so handeln könne wie Manon.
Zwei- oder dreimal schrieb der Herzog ihr. Sie erkannte seine Handschrift auf den Umschlägen und gab die Briefe ungelesen an mich weiter.
Bei manchen Sätzen in diesen Briefen kamen mir die Tränen. Er hatte geglaubt, daß Marguerite, wenn er ihr sein Geld versagte, zu ihm zurückkehren werde. Als er die Nutzlosigkeit seines Verhaltens einsah, konnte und wollte er nicht daran festhalten. Wie schon einmal hatte er gebeten, sie wiedersehen zu dürfen, unter welchen Bedingungen es auch immer sei. Ich hatte also alle diese Briefe gelesen und zerrissen, ohne Marguerite etwas über den Inhalt zu sagen oder ihr zu raten, den Herzog wiederzusehen, obwohl ich Mitleid mit dem alten Manne empfand. Aber ich fürchtete, sie würde in dem Vorschlag, dem Herzog seine früheren Besuche wieder gestatten, zugleich den Wunsch sehen, er möge auch wieder die Kosten der Haushaltsführung übernehmen.
Vor allem befürchtete ich, sie traue mir zu, ich könnte die Verantwortlichkeit für ihr Leben mit allen Folgerungen, die diese Liebe für mich hatte, abschlagen wollen. Da der Herzog kein Antwort bekam, schrieb er zuletzt nicht mehr. Marguerite und ich, wir führten unser gemeinsames Leben weiter, ohne an die Zukunft zu denken.